Am letzten Montag hat das verantwortliche Komitee bei der Bundeskanzlei die Initiative «Ja zur tierversuchsfreien Zukunft» eingereicht. Es ist schon die fünfte zustande gekommene Volksinitiative seit 1981, die ein Verbot von Tierversuchen fordert. Vor nicht einmal drei Jahren war die letzte Initiative mit der gleichen Forderung mit 79 Prozent Nein-Stimmen deutlich gescheitert.
Das Komitee ist dasselbe wie bei der letzten Abstimmung, aber der Initiativtext ist anders. Im Gegensatz zur alten Version fordert die Neuauflage kein Importverbot für Produkte mehr, die an Tieren getestet worden sind. Dazu hätten sämtliche am Markt zugelassenen Medikamente gehört. Auch das Verbot von «Menschenversuchen», das klinische Studien mit Freiwilligen verunmöglicht hätte, ist verschwunden. Damit sind zwei entscheidende Schwächen der letzten Initiative getilgt. Aber nicht alle.
Umfragen zeigten, dass das schlagendste Argument gegen die Initiative von 2022 lautete: Bei einer Annahme würde die Forschung ins Ausland abwandern. Darauf hat auch die neue Initiative keine Antwort, deren einzige Forderung ein Verbot aller Tierversuche ist.
Auch eine chancenlose Initiative kann eine Debatte lancieren. Aber lanciert diese Initiative die richtige?
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Nico Müller hat Philosophie und Soziologie studiert und an der Universität Basel mit einer Doktorarbeit zur Tierethik promoviert. Zurzeit leitet er ein Projekt innerhalb des Nationalen Forschungsprogramms 79, das durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird. In seiner Arbeit beschäftigt er sich mit ethischen und begrifflichen Aspekten der Planung des Ausstiegs aus Tierversuchen.
Zeitsprung: 1836 flieht ein Hund aus einem Laboratorium der Universität Bern. Er hätte Teil einer Studie zur Frage sein sollen, wie viel Blut der Körper benötigt. Darauf bezeichnen Zeitungen den verantwortlichen Studienleiter, Professor Gabriel Gustav Valentin, als «Hundequäler».
Die Episode ist der Startschuss für eine bald 200-jährige Kontroverse um Tierversuche in der Schweiz.
1876 nimmt ein anderer Forscher, der deutsche Professor Moritz Schiff, einen Ruf an die Universität Genf an. Er ist bekannt für Studien, in denen er Tiere mit Chloroform zum Herzstillstand bringt und ihr Herz in der aufgeschnittenen Brust massiert, bis es wieder schlägt. Die britische Tierschutzpionierin Frances Power Cobbe führte bereits an Schiffs früherem Arbeitsort Florenz Kampagnen gegen ihn und folgt ihm in die Schweiz. Die Streitigkeiten spitzen sich zu.
Aufgrund dieser Spannungen hält der Bund 1877 Rücksprache mit den Universitäten Basel, Bern, Zürich und Genf, ob sie auf Tierversuche verzichten könnten. Sie sagen Nein. Vier Jahre später erreicht die erste Petition für ein Verbot den Bundesrat – ohne dass dieser reagiert. Und auf kantonaler Ebene fordern zwischen den 1890er- und den 1930er-Jahren mehrere Initiativen ein Tierversuchsverbot. Alle scheitern an der Urne.
Erst viel später, nämlich 1981, tritt das erste nationale Tierschutzgesetz in Kraft. Es macht Tierversuche in der Schweiz bewilligungspflichtig, verbietet sie aber nicht. Noch im selben Jahr wird eine Volksinitiative für ein Verbot eingereicht. Sie unterliegt an der Urne, genau wie ihre Nachfolgerinnen 1992, 1993 und 2022.
Die Debatte über ein Tierversuchsverbot ist also keineswegs neu. Im Gegenteil: Wenige Anliegen sind hierzulande schon so lang so kontrovers diskutiert worden. Und politisch so chancenlos gewesen.
Zahl der Tierversuche steigt wieder an
Während die Debatte an Ort verharrte, veränderte sich die Praxis. 1983 erhob der Bund erstmals die Zahl der in Versuchen eingesetzten Tiere. Er kam auf rund 2 Millionen. Doch bis Mitte der 1990er-Jahre fiel die Zahl rapide, und zwar auf 550’000 bis 750’000 pro Jahr. Die Gründe dafür sind nicht restlos geklärt. Fest steht aber, dass auch weltweit immer weniger Tiere für Versuche eingesetzt wurden. Besonders in der Industrie, die immer mehr Tierversuche durch einfachere und günstigere Methoden ersetzen konnte.
Doch seit 2020 steigt die Zahl wieder leicht an. Letztes Jahr wurden knapp 600’000 Versuchstiere registriert.
Was dazukommt: Auf jedes Tier, das in einem Versuch eingesetzt wird, kommt mittlerweile eines, das zwar dafür gezüchtet, aber nicht eingesetzt wird. Der Grund: In der Zucht haben nicht alle Geschwister in einem Wurf die gewünschten Eigenschaften. Diese Tiere tötet man in aller Regel. So sind im letzten Jahr etwa 1 Million Versuchstiere in der Schweiz gezüchtet und rund 210’000 importiert worden.
Ich will es genauer wissen: Was heisst überhaupt «Tierversuch»?
«Tierversuch» ist ein Sammelbegriff. Laut Gesetz zählt dazu jeder Einsatz von lebenden Tieren zur Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen. Das Spektrum ist enorm. Versuche können für Tiere komplett unschädlich sein, etwa wenn Hunde in Studien freiwillig eine kleine Aufgabe lösen müssen. Die Versuche können aber auch schwerste Schäden zur Folge haben, etwa wenn Mäusen Gehirntumoren angezüchtet werden.
Das Bewilligungssystem unterscheidet vier sogenannte Schweregrade von null («keine Belastung») bis drei («schwere Belastung»). Etwa 5 Prozent der eingesetzten Versuchstiere waren letztes Jahr der schwersten Belastung ausgesetzt, je 28 Prozent den beiden mittleren Graden und 39 Prozent dem Schweregrad null. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass der Tod rechtlich gesehen nicht als «Belastung» gilt. Und mit dem Tod enden die meisten Tierversuche, auch die schmerzlosen, denn nur ein verschwindend kleiner Anteil der Versuchstiere wird in Tierheime weitervermittelt.
Unter den eingesetzten Tieren sind laut der neuesten Statistik des Bundes etwa 60 Prozent Mäuse. Sie kommen meist für die Erforschung von Krebs und neurologischen Erkrankungen zum Einsatz. Der Rest sind überwiegend Ratten, Fische und Vögel, von denen wiederum ein Grossteil Hühner in Fütterungsstudien sind. Universitäten und Spitäler setzen mehr als die Hälfte aller Tiere ein. Und in einer Mehrheit der Einsätze geht es um Grundlagenforschung, nicht um direkte Anwendungen wie neue Wirkstoffe.
Dass die Tierversuchszahlen in der Schweiz seit ein paar Jahren wieder steigen, ist für den Staat ein Problem. Immerhin stellt jeder belastende Tierversuch einen Konflikt dar: Laut Bundesverfassung muss die öffentliche Hand sowohl den Tierschutz als auch die Forschungsförderung unterstützen. Bei Entscheiden über Tierversuche muss sie aber eins dieser Güter über das andere stellen.
Der Staat behilft sich dabei mit einem Abwägungssystem: Will eine Forscherin einen Tierversuch durchführen, muss sie ein Gesuch an die kantonale Veterinärbehörde richten und darin die Schäden für die Tiere und den potenziellen Nutzen der Studie darlegen. Und sie muss erklären, inwiefern der Tierversuch für ihre Forschungsfrage geeignet und alternativlos ist.
Das zuständige Veterinäramt wägt dann ab: Bringt die Studie mehr Nutzen oder mehr Schaden? Bei Schweregrad null entscheidet es selbst. Bei höheren Schweregraden zieht es eine Tierversuchskommission bei. Darin sitzen mehrheitlich Forscher, aber auch Vertreterinnen von Tierschutzorganisationen. Doch die kantonalen Ämter kommen fast immer zum gleichen Schluss: Sie lehnen weniger als 1 Prozent der Gesuche ab.
Was ist die Alternative?
Vor lauter Routine könnte man fast vergessen, dass diese Güterabwägung eigentlich ein Kriseninstrument ist: Unzählige Male im Jahr ein Verfassungsgut gegen ein anderes abwägen zu müssen, ist kein zufriedenstellender Zustand.
Deshalb stellt sich die Frage: Tun wir genug, um den Konflikt zwischen Tierschutz und Forschung von vornherein zu vermeiden?
Der Bund investiert seit den 1980er-Jahren öffentliche Gelder in Programme für die sogenannten «3 R»: replace, reduce, refine. Forscher sollen Tierversuche demnach möglichst ersetzen, verkleinern und verfeinern.
Das ist durchaus möglich: Einige Tierversuche kann man zum Beispiel durch Studien mit Zellkulturen oder Computersimulationen ersetzen. Oder: Forscherinnen können präzise statistische Berechnungen anstellen, um mit weniger Tieren auszukommen. Oder: Sie können schonender mit Tieren umgehen. So sind Zebrafische weniger gestresst, wenn es in ihrem Tank etwas Seegras und Kiesel hat, und Mäuse lassen sich lieber in einer Glasröhre transportieren als auf einer menschlichen Hand.
Eine gewisse positive Wirkung haben diese Massnahmen bestimmt. Doch ganz offensichtlich reichen die «3 R»-Programme des Bundes allein nicht aus, um die Zahl der Tierversuche in der Schweiz nachhaltig zu reduzieren.
Überraschend ist das nicht. Immerhin entwickeln Forscher nicht nur neue Alternativmethoden, sondern auch laufend neue Tierversuche. Entdecken sie zum Beispiel neue genetische Ähnlichkeiten zwischen Tieren und Menschen – etwa zwischen Genvariationen bei Primaten und Menschen mit seltenen Krankheiten –, so können sie auch neue Experimente am Tier entwickeln, die womöglich Rückschlüsse auf den Menschen erlauben. Oder Forscherinnen manipulieren das Genom von Versuchstieren, damit diese die gewünschten Eigenschaften aufweisen. Es ist also bestenfalls eine halbe Lösung, die bereits existierenden Tierversuche durch Alternativen zu ersetzen.
Das Ausland ist weiter
Was könnte man zusätzlich tun? Da hilft ein Blick über die Landesgrenze.
Die deutsche Bundesregierung zum Beispiel lässt derzeit eine Reduktionsstrategie für Tierversuche erarbeiten. Details des Plans sind noch nicht öffentlich. Doch schon nur der Schritt, eine Strategie zu formulieren, ist ein Paradigmenwechsel. Wenn man weiss, mit welchen Schritten man zum Ziel gelangen will, ist Fortschritt erstens wahrscheinlicher und zweitens besser evaluierbar.
Auch das Europaparlament hat sich 2021 für eine umfassende Strategie zum Ausstieg aus Tierversuchen ausgesprochen.
Bausteine für eine solche Strategie gibt es viele, etwa in der Forschungsförderung: Eine öffentliche Stiftung in den Niederlanden vergibt beispielsweise einen Bonus von 50’000 Euro für biomedizinische Projekte, wenn sie ohne Tierversuche auskommen. Das ist für Forscher ein Anreiz, Fortschritt besonders da zu suchen, wo er ohne Tierversuche erreichbar ist. Es gibt in den Niederlanden auch ein Zentrum für sogenannte «Helpathons». Das sind Workshops, in denen Forscherinnen gemeinsam ihre Projektideen überarbeiten, um mit weniger oder gar keinen Tierversuchen auszukommen.
Man kann auch Strukturen schaffen, die bestimmte tierversuchsfreie Ansätze besonders fördern. Deutschland, die Niederlande und Grossbritannien haben jeweils fest verankerte Programme für die Entwicklung von organs on a chip. Bei dieser Technologie werden menschliche Zellen auf Kunststoffplättchen über winzige Kammern und Kanäle miteinander verbunden, sodass sie Vorgänge des Körpers in Miniatur nachbilden. Zum Beispiel kann man Teile der Leber auf diese Weise modellieren und entsprechend testen, wie sich eine chemische Substanz auf das Gewebe auswirkt. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, die zwar gute Forscherinnen auf diesem Gebiet haben, sie aber nicht mit eigenen Strukturen fördern.
Aber auch in den Hochschulen wären Massnahmen möglich: Die Universität Utrecht etwa hat seit 2022 einen eigenen Lehrstuhl in «evidenzbasierter Transition zu tierfreien Innovationen».
Die Schweiz braucht eine Tierversuchsstrategie
Solche Massnahmen zielen nicht darauf ab, Tierversuche zu verbieten. Sie bauen stattdessen ein Umfeld auf, in dem tierversuchsfreie Spitzenforschung so gut gedeiht, dass Tierversuche nicht mehr die interessanteste Option sind.
Eine Tierversuchsstrategie wäre in der Schweiz verschieden umsetzbar. Bereits jetzt gibt der Bundesrat alle vier Jahre forschungspolitische Impulse in der sogenannten BFI-Botschaft – kurz für Bildung, Forschung, Innovation. Das Thema Tierversuche, geschweige denn konkrete Ziele für die Förderung tierversuchsfreier Ansätze, gibt es darin bisher nicht. Das könnte der Bundesrat ändern.
Eine entsprechende Strategie liesse sich auch im Tierschutzgesetz verankern, das ohnehin vor einer Revision steht. Das Parlament könnte beispielsweise vom Bundesrat verlangen, dass er regelmässig Ziele festlegt, wie sich die Schweiz punkto Tierversuche weiterentwickeln soll. In diese Richtung zielt eine parlamentarische Initiative der grünen Ständerätin Maya Graf.
Aber auch der Nationalfonds als grösster Forschungsförderer müsste aktiv werden. Wie sein niederländisches Pendant könnte er gezielte Anreize für tierversuchsfreie Projekte setzen.
Kurz: Bei Tierversuchen sollten wir das Wie der Veränderung diskutieren, nicht das immer gleiche Pro und Kontra wie seit über 150 Jahren. Welche konkreten Massnahmen sollen Bund und Kantone, aber auch Nationalfonds und Hochschulen ergreifen, um tierversuchsfreie Ansätze zu fördern und Tierversuche abzubauen? Wie sollen sie sich koordinieren? Und wer soll dafür zahlen? Das sind die entscheidenden Fragen.
Eine weitere Initiative für ein blosses Tierversuchsverbot wird diese Diskussion kaum lancieren. Führen müssen wir sie trotzdem.